Eckhard Martin
Literatur und Wissenschaft
Die Geschichte einer unglücklichen Beziehung


„Selbst der philosophische Untersuchungsgeist entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der anderen, und die Grenzen der Kunst verengen sich, je mehr die Wissenschaft ihre Schranken erweitert.“
Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart/Berlin, J.G. Cotta

„Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer anderen zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus.“
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M., Suhrkamp


Man hat in der Debatte um die Bedeutung der Wissenschaft im Laufe der Zeiten verschiedene Disziplinen zu so genannten Leitwissenschaften ausgerufen, und die Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts war unbestritten die Chemie. Im 20. Jahrhundert folgte auf sie die Biologie, und ernstzunehmende Theoretiker erwarten, dass die Erforschung der künstlichen Intelligenz zur zentralen wissenschaftlichen Aufgabe des 21. Jahrhunderts werden wird, Kybernetik und Gentechnik – möglicherweise in enger Verbindung mit den Folgen der Entzifferung des menschlichen Genoms – zu den Leitwissenschaften des nächsten Zentenniums. Wenn es aber in absehbarer Zeit tatsächlich möglich sein sollte, künstliche Produkte als intelligent und lernfähig zu bezeichnen, dann wird auch die Frage der Moral – gewissermaßen in Form eines programmierbaren content – zunehmend interessant werden. Eine „zweite Schöpfung“ ist demnach ohne den Beitrag der Geisteswissenschaften kaum denkbar.
Betrachtet man jedoch den Zustand der theoretischen Debatte innerhalb der Geisteswissenschaften, so ist die Uneinheitlichkeit und Unübersichtlichkeit der Positionen im Augenblick vielleicht deren hervorstechendstes Merkmal. Im Vorwort des von ihm zusammen mit Heinz Ludwig Arnold herausgegebenen Handbuchs Grundzüge der Literaturwissenschaft bescheinigt Heinrich Detering seiner Disziplin neben einem ausgeprägten Methodenpluralismus in jüngster Zeit gar eine „literaturwissenschaftliche Moden-Anfälligkeit“. Während nun schon die Begrifflichkeit im Deutschen für Verwirrung sorgen kann, weil sich sowohl die Beschäftigung mit den Vorgängen in der Natur als auch die mit den Hervorbringungen des Geistes unter dem Postulat der Wissenschaft wiederfinden, kennen der anglo-amerikanische wie auch der romanische Sprachraum die enge Verwendung des Wortes Wissenschaft im Zusammenhang mit den Äußerungen des menschlichen Geistes nicht. Lettres und sciences bilden im Französischen das Begriffspaar, das bei uns durch Geistes- und Naturwissenschaft bezeichnet wird. In der englischen Sprache werden humanities und sciences unterschieden.

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