Irmgard Hort
Liebigs »Chemische Briefe« – ein Werk mit weitgespanntem Themenspektrum und weitreichender Verbreitung


Das Themenspektrum der Chemischen Briefe ist außerordentlich vielfältig. Liebig stellte in ihnen die geschichtliche Entwicklung und grundlegende Sachverhalte seiner Wissenschaft vor. Sein besonderes Bestreben war es, die Bedeutung der Chemie für die unterschiedlichsten Lebensbereiche herauszuarbeiten. In diesem Kontext beschäftigte er sich mit Fragen der industriellen Produktion und ihren ökonomischen Auswirkungen ebenso wie mit Ernährung und Landwirtschaft. Als unentbehrlich schätzte er seine Disziplin auch für die weitere Entwicklung der Physiologie ein.

Ein Anlass, sich intensiv mit einem medizinischen Problem zu beschäftigen, lieferte der Prozess zum Tod der Gräfin Görlitz, in dem Liebig vom Gericht als Sachverständiger berufen wurde. Es galt die Frage zu entscheiden, ob die Gräfin Opfer einer Selbstverbrennung geworden war. Die zeitgenössische Theorie ging davon aus, dass in solchen Fällen übermäßiger Alkoholkonsum zu einer leichten Entflammbarkeit des Körpergewebes der betreffenden Person führen konnte. Gestützt u.a. auf den aktuellen Kenntnisstand zum Verbrennungsprozess, vermochte Liebig gemeinsam mit dem Gießener Professor für Anatomie und Physiologie, Theodor Ludwig Wilhelm Bischoff, überzeugend darzulegen, dass derartige Selbstentzündungen grundsätzlich unmöglich seien. Eine Broschüre, die Liebig zu diesem Thema verfasste, hat später in leicht veränderter Form Eingang in die Chemischen Briefe gefunden.
Diese Sammlung von Abhandlungen zu den Grundlagen und der Bedeutung der Chemie erlebte zwischen 1844 und 1878 in Deutschland sechs Auflagen. Sie ist auch in zahlreiche europäische Sprachen übertragen worden. Bei der Verbreitung der Schrift im Ausland kam dem internationalen Schülerkreis Justus Liebigs eine wichtige Vermittler-Position zu, wie Übersetzungen ins Englische, Französische, Spanische und Polnische belegen, die von Personen dieses Zirkels gefertigt wurden. Daneben erschienen die Chemischen Briefe auch auf Niederländisch, Dänisch, Schwedisch und Russisch. Oft waren es interessierte Wissenschaftler, die die Übersetzungen anfertigten. Außer Chemikern finden sich hier Pharmazeuten, Mediziner und ein Veterinär, also Angehörige jener Fachgebiete, die vom Erkenntnisfortschritt in der Chemie profitierten.
Noch vor den deutschen Ausgaben waren die Chemischen Briefe in Großbritannien in Buchform herausgekommen. Hier konnten sie in den der Gründung des Royal College of Chemistry vorangehenden Diskussionen die Position der Befürworter dieser Einrichtung stärken. Idealtypisch wird dabei ihre Funktion deutlich, den Institutionalisierungsprozess der sich erst als selbständige Wissenschaft etablierenden Chemie zu stärken und zu unterstützen.

Die Chemischen Briefe spiegeln auch die Beziehungen Liebigs zu seinen Berufskollegen wider. So widmete er die dritte deutsche Auflage von 1851 dem damals führenden französischen Chemiker Jean-Baptiste André Dumas. Ziel dieser Dedikation war es ganz offensichtlich, das nach früheren Auseinandersetzungen inzwischen verbesserte Verhältnis der beiden Wissenschaftler weiter zu stabilisieren.
Das Vorwort des Übersetzers der ersten niederländischen Ausgabe lässt hingegen das Zerwürfnis zwischen Liebig und seinem Kollegen Gerrit Jan Mulder vor allem in Fragen der Proteintheorie aufscheinen.
Insgesamt bietet die Beschäftigung mit den Chemischen Briefen und ihrer Wirkung Einblick in die vielfältigen Interessen ihres Verfassers, sie vermittelt darüber hinaus einen Eindruck von seinen Intentionen im wissenschaftspolitischen Bereich und lässt seinen Einfluss auch auf internationaler Ebene erkennen.

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