Jörg Brixel
Westkrypta
Dokumente einer Zerrüttung, oder: Entwürfe für ein glückliches Leben


„Unter uns ist alles hohl.“
Georg Büchner, Woyzeck-Fragmente

„Hell is empty“
Mark Stewart & the Maffia


Es gilt, einen schrecklichen Wahn zu erschaffen. Der Schläfer schreckt auf, am Bettende sitzt eine junge Frau, sie späht aus dem Fenster. Das war noch in der ebenerdigen Zeit. Der Notarztwagen schreit durch das Dunkel, zu spät, zu spät, die atemlose monotone Dringlichkeit, ein Unbekannter in Not, die süße Sorge. Die Sorge ist edel und tobt durch die Nacht. Paß auf, tritt nicht in das Erbrochene. Hier ist ein Loch im Bürgersteig. Hinter dieser Hecke lauert ein Tier. Vor langer Zeit hat Gott den Menschen die Sorge geschenkt. Zu spät, zu spät. Es ist schön, daß Gott gerne Geschenke macht und daß die Frau sachte atmet. Sammle Beweise. Der Schläfer entspannt sich, gleich ist es vorbei, wenn er aufwacht, wird er eine andere Funktion haben. Du stehst am Bahnsteig. Jemand hat mit Bedacht eine weiße Linie gezogen. Ein kleiner Vogel hüpft zickzack die Linie entlang, die menschliches Leben von menschlichem Tod trennt. Aus den zerbrechlichen Köpfen und Extremitäten der Menschen wächst die kalte zermalmende Wucht der Maschinen. Bitte zurückbleiben. Immer siehst du die potentiellen Toten. Für Gott gibt es keinen Tod, weil er alles doppelt sieht. Ein Güterzug fährt durch. Die Reisenden stehen willig herum. Du hättest die Frau gerne kennengelernt, sie ist jetzt woanders, sie hat ihm, der gleich aufwachen wird, einmal ein Kompliment gemacht. Gott muß niemanden kennenlernen. Gleich kommt der Zug, in den man unbesorgt einsteigen kann. Du entfernst dich. Du bist viel zu süchtig nach Linien und Grenzen. Die Lokomotive ist freundlich, sie bringt dich an Orte, die du ohne sie vielleicht nie gesehen hättest. Die Frau ist jetzt woanders. Aus den Köpfen und Extremitäten der Menschen wachsen Dinge, die sie nicht immer kontrollieren können. Bitte bring mich von hier nach da. Von Westen nach Osten. Es ist ein Unbekannter in Not. Vor langer Zeit hat jemand die Frau sachte atmen gehört.

(…)
 

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