Christoph Karsten
Timur Novikov und die »Neue Akademie«


Im Mai 2002 verstarb mit Timur Novikov (geb. 1958) einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Maler Russlands.

Seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jhdts. war der 1958 geborene Novikov einer der präsentesten (und kommerziell erfolgreichsten) „neuen“ russischen Maler auf dem internationalen Kunstparkett. Über sein eigenes malerisches Schaffen hinaus prägte Novikov auch nachhaltig den theoretischen Diskurs in seiner Heimatstadt St.Petersburg. Der Gründung der „New artist group“ 1982 (u.a. mit O. Kotelnikov, S. Bugajev alias Afrika und J. Koslov) folgte nach ausgedehnten Studienreisen durch diverse westliche Länder 1989 die Gründung der „New academy of fine arts“ in Leningrad (weitere Gründungsmitglieder waren u.a. die Professoren O. Maslov, V. Kusnetzov, G. Guryanov, A. Medvedev sowie eine kleine Zahl talentierter internationaler Studenten). Mit der „Neuen Akademie“ schuf Novikov seiner Lehre von der Rückkehr der zeitgenössischen Kunst zu den Wurzeln des tradierten Wissens eine Plattform. Beispielhaft formuliert findet sich der Anspruch der Gruppe in ihrem 1997 formulierten „Manifest“ an die Europäer „to be involved in the preservation of lost culture“ (u.a. in T. Novikov, „Novi Russki Klassizism“, St.P´bg. 1998, S. 185 f.).

Von der anfänglichen Negierung der Wertigkeit moderner Kunst auch jenseits tradierter Techniken emanzipierte sich seine Lehre im Lauf der Jahre zu einem Ansatz, der die Fortentwicklung der zeitgenössischen Kunst auf der Basis des klassischen Ansatzes ermöglichte. „Klassische Kunst im digitalen Zeitalter“ könnte eine passende Umschreibung dessen lauten, was Novikov und sein Kreis einer sich ständig erweiternden interessierten Öffentlichkeit präsentier(t)en. Bruce Sterling bezeichnet diesen „digitalen Imperativ“ in seiner kurzen Abhandlung („Neo-Academism in Saint Petersburg“, St.P´bg. 2000, S. 7) als „wild card“ der Gruppe, oder auch kurz und bündig: „Photoshop is their friend“. Die „Neuen Akademisten“ liefern „Klassik mit dem gewissen Etwas“, irgendwo in ihren Werken steckt zumeist doch bei aller klassischen Attitude der kleine Haken, der „Link“ in die Jetzt-Zeit, das neue Element.

Novikov wandelte sich vom – teils belächelten – „Reaktionär“ zu dem für seine Heimatstadt, ja vielleicht ganz Russland bestimmenden Wegweiser in eine emanzipative Entwicklung zeitgenössischer Kunst. Er hat somit gemeinsam mit seinen Mitstreitern in gewisser Weise der modernen Kunst eine späte Grundlage verschafft, auf der – unter Beachtung tradierten Wissens – der Weg in die Zukunft möglich wurde „ohne gleich alles über Bord zu werfen“. Die Auseinandersetzung mit den postulierten Grundsätzen der „Neuen Akademie“ bietet gerade in ihrer beispielhaften Überhöhung nahezu allgemein gültiger Grundlagen der russischen Auffassung dessen, was wahre Kunst ist und sein soll, eine wunderbare Gelegenheit, Unterschiede in der Lehre vom künstlerischen Schaffen zwischen unseren beiden Ländern beispielhaft zu illustrieren. Sind doch zumal in der akademischen Lehre starke Unterschiede zwischen den beiden Ländern zu konstatieren, die meist mit den Schlagworten „Vermittlung traditioneller Techniken“ in der russischen Kunsterziehung und „Förderung individueller Begabung“ an deutschen Kunsthochschulen umschrieben werden.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Heimat dieses Verfechters „des Guten, Wahren und Schönen“ das heutige St.Petersburg war. Quer durch die Künste gilt Russlands Kulturmetropole – trotz aller Weltzugewandheit – als Verfechterin der Wahrung traditioneller Werte. Die Vermittlung klassischer Grundlagen in der Ausbildung gelten hier nicht als Hemmnis für die künstlerische Entfaltung des Individuums, sondern vielmehr als unabdingbare Voraussetzung, ohne deren Beherrschung künstlerische Emanzipation notwendig unvollkommen bleiben muss. So nimmt es nicht Wunder, dass Novikovs anfängliche radikale Verneinung der Moderne, ja deren Verdammung als Totengräberin jeder „wahren Kunst“ gerade hier in „seiner“ Stadt auf fruchtbaren Boden fiel.

Die Radikalität der postulierten Grundsätze mag sich teilweise aus Novikovs persönlicher Situation erklären, war er doch in seinen letzten Lebensjahren von schwerer Krankheit geschlagen und als Folge davon mit dem stetig zunehmenden Verlust seines Augenlichts konfrontiert, um zuletzt in völliger Blindheit zu leben.

In seiner Kritik der ahistorischen Moderne jedoch auch und vor allem eine Reaktion auf die politisch-gesellschaftliche Öffnung seiner Heimat zur westlichen Welt zu sehen, ist sicher eine Variante des Verstehens. Der Einbruch des Kapitalismus in fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens und die damit verbundene „everything goes“-Mentalität mag gerade in ihrer ungeschminkten Form, wie sie sich in Russland seit ca. 1992 darstellt, durchaus der Auslöser für Novikovs Ablehnung der westlichen Moderne gewesen sein. „Saint Petersburgs architecture always made communism look bad and aristocracy is also a living reproach to any society prostrated by Pepsi, Marlboro and McDonald“ (B. Sterling, a.a.O., S. 5). Nicht dass die Kunst im Sozialismus nur rückwärts gewandt gewesen wäre, – selbst der staatlich verordnete „sozialistische Realismus“ liefert durchaus Beispiele moderner Interpretation klassischer Sujets –, so war der klassizistische Bezug im künstlerischen Ausdruck weit über die offizielle Staatskunst hinaus unter St.Petersburgs Malern doch weitgehend „common sense“. Der fast spielerische Umgang der „Neuen Akademie“ mit der Adaption klassischer Kunstformen durch die Ideologen der totalitären Systeme, die die Geschicke unsere Länder im 20. Jahrhundert so stark geprägt haben, bietet darüber hinaus grade dem deutschen Publikum die Chance auf einen weniger verstellten Blick auch auf bisher weitgehend tabuisierte Perioden künstlerischen Schaffens hierzulande. „The Neo-academists aren´t Nazis … but they thought a lot about, who the Nazis were and how they worked“ (B.Sterling, a.a.O., S.5).

Für uns Deutsche könnte die Beschäftigung mit der Theorie und Praxis der „Neuen Akademie“ also eine durchaus willkommene Hilfestellung sein bei einer sicher schmerzlichen und kritischen, aber enttabuisierteren Reflektion des bis heute nahezu komplett ausgeblendeten künstlerischen Schaffens im III. Reich.

Die „Neue Akademie“ und ihr theoretischer Unterbau darf als die erste und wichtigste kunsttheoretische Ausformung des postsozialistischen Russlands gelten. Auch wenn Novikov ihr treibender und prägender Motor war, so steht er doch nicht allein. Seine Philosophie hat weit über die Grenzen der Malerei hinausgestrahlt. Bemerkenswerte Arbeiten und namhafte Projekte, etwa im Bereich der Videokunst und der elektronischen Musik, auch der Literatur sind im Laufe der Jahre auf der Basis seiner intellektuellen Vorgaben und mit dem „Spirit“ der „Neuen Akademie“ entstanden. Der ganze künstlerische Kosmos St.Petersburgs lässt sich von diesem Ansatz her erschließen, was eindeutig für die Stringenz der von Novikov postulierten Grundsätze spricht. Jenseits wie immer gearteter Kritik an seinen theoretischen Ansätzen bleibt deren Wirksamkeit auf sein weiteres künstlerisches Umfeld eine nicht zu leugnende Tatsache. Beschrieb Novikov seine „Neo-Akademisten“ noch 1991 als „looking foolish, absurd, simply out of place“ in ihrer „Attitude von Kindern, die den Tempel des Apollon noch umstreifen, während dessen Wächter schon lange in Panik geflohen“ seien (T. Novikov, a.a.O., S. 192), so ist die Schar der Bewahrer des klassischen Ideals zumindest unter seinen russischen Künstlerkollegen bis heute sichtlich gewachsen.

Timurs so früher Tod stellt eine Zäsur dar, die Anlass sein sollte, den Gehalt und die Gültigkeit der in fast eineinhalb Jahrzehnten postulierten Grundsätze dessen, was dieser große russische Meister unter moderner Kunst verstanden hat, in einer Rückschau und Bestandsaufnahme gleichsam auf den Prüfstand zu stellen. Schon die nahe Zukunft wird zeigen, ob das Ableben des geistigen Vaters der „Novaja Akademija“ nur das Ende einer ersten langen Etappe ist oder das Ende einer Gedankenschule bedeutet. Vieles deutet auf Ersteres hin. In jedem Fall verlangt der so frühe Tod dieses großen St.Petersburger Meisters ein reflektierendes Innehalten.

Hamburg, im November 2002

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