Jochen Weeber
Meine letzten Stunden ohne Tagebuch (Auszug)


Heute morgen ist das Leben so, als hätte ich es erfunden: Es ist halb sieben und der Wecker läutet nicht. Das ist eine beeindruckende Erfahrung. Man dürfte eigentlich nicht ausschlafen, aber man tut es trotzdem. Wozu leere Batterien doch von Nutzen sind. Irgendwann wache ich auf und die Zeit ist weg.
In der Küche finde ich sie wieder, sie hängt an der Wand und macht Kuckuck. Das hat sie auch schon vor Jahren gemacht, jedoch nicht in meiner, sondern in Großmutters Wohnung. Ich betrachte das Häuschen und höre Oma Lise wie sie sagt: „Das Leben und … du weißt schon, die Liebe, dafür musst du dir genug Zeit nehmen, mein Junge“.
Wie wohl mein Chef auf diese Erklärung reagieren würde.
In der Probezeit morgens um zehn könnte einem das ziemlich negativ ausgelegt werden. Da ich mir nicht sicher bin, ob das in Großmutters Sinn gewesen wäre, lasse ich erst mal die Finger vom Telefon. Anrufen und nachfragen, wie sie das gemeint hat, das wäre jetzt gut, ich weiß noch ihre Nummer, aber da geht seit dem Schlaganfall letztes Frühjahr keiner mehr ran.

Vielleicht kann mir eine andere Frau weiterhelfen. Diese ist zwar fast 40 Jahre jünger, aber ich kann sie immerhin noch in diesem Leben fragen. Ich muss einfach ins Nebenzimmer gehen, mich zu ihr unter die Decke legen und mit einem Kuss könnte ich sie auf meine Seite ziehen. Im Flur ist es still. Vorsichtig öffne ich die Tür und nach fünf kleinen Schritten erreiche ich das Bett. Leer. Auch im Bad ist sie nicht.

(...)

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