Sie ist aufgeregt. Sie sitzt am Ende des Ganges. Als die Tür aufgeht,
wird ein alter Mann herausgeführt. Links und rechts von ihm laufen
zwei Krankenpfleger, die ihn fest im Griff haben. Der Alte schreit und
versucht, den beiden Männern zu entkommen. Doch es ist aussichtslos.
Sie ziehen ihn den Gang entlang und gehen mit ihm in ein kleines Zimmer.
Was wohl ihre Mutter gerade macht? Wahrscheinlich sitzt sie hinter einer
dieser Türen und starrt den lieben langen Tag auf eine bestimmte
Stelle an der Wand.
Als man sie vor einigen Tagen anrief, kam ihr alles vor wie in einem
Alptraum. Man sagte ihr, man hätte ihre Mutter halb erfroren auf
einer Parkbank gefunden. Sie hatte ihre Handtasche auf ihrem Schoß
fest umklammert. Man teilte ihr mit, dass ihre Mutter, seit man sie
gefunden hatte, kein Wort redete. Man habe alles versucht. Sie wirke
hilflos und könne die einfachsten Handgriffe nicht mehr. Deshalb
hat man sie hierher gebracht. Wo sitzt sie hier eigentlich? In einer
Irrenanstalt? Ihre Mutter in einer Irrenanstalt? Das konnte einfach
nicht sein. In ihrer Kindheit war sie die fröhlichste, aufgeschlossenste
Frau, die sie kannte. All ihre Freundinnen fanden ihre Mutter einfach
spitze, denn an den Nachmittagen war das Haus immer voller Leben gewesen.
Auch den Tod ihres Mannes vor einem Jahr hatte sie bewundernswert gut
verkraftet. Und nun sollte sie von einem zum anderen Tag verstummt sein?
Das konnte nicht wahr sein!
Aber es ist wahr. In wenigen Minuten sollte sie vor ihrer Mutter sitzen.
Sie hat Angst. Ja, das gibt sie offen zu. Was, wenn ihre eigene Mutter
sie nicht erkennt? Es würde ihr das Herz brechen. Vielleicht sollte
sie einfach wieder gehen. Niemand hat sie gezwungen, hierher zu kommen,
man hatte sie lediglich darum gebeten. Wenn sie jetzt ginge, könnte
sie ihre Mutter in guter Erinnerung behalten. Andererseits würde
sie sich Vorwürfe machen, sie hier allein gelassen zu haben. Erwartete
man von ihr, ihre Mutter mit nach Hause zu nehmen? Das würde sie
nicht schaffen. Sie hat eine Familie. Sie muss für ihre Kinder
da sein, den Haushalt erledigen und hat auch noch einen Teilzeitjob.
Wenn sie sich jetzt um eine alte verwirrte Frau kümmern muss
sie würde daran kaputtgehen. Das Problem ist, dass ihre Mutter
auch immer für sie da gewesen war. Sie würde es nicht übers
Herz bringen, sie hier zurückzulassen. Gerade fängt sie an,
sich zu überlegen, wie ihr Leben ab heute aussehen wird, als eine
Frau auf den Gang tritt: Sie können jetzt herein kommen.
Langsam erhebt sie sich und betritt das Zimmer.
Auszug aus der Personalakte der Psychiatrischen Klinik
von S.:
Inhalt der Handtasche der Patientin B.:
Personalausweis, abgelaufen seit 1 Jahr
Adressbuch, vollgeklebt mit Todesanzeigen
5 Pfefferminzbonbons, unverpackt und verdreckt
Hochzeitsfoto aus dem Jahre 1951
mehrere alte Fotos, bei denen die Gesichter herausgeschnitten
wurden
1 geöffnete Tüte Vogelfutter
1 Stofftaschentuch, vollgemalt mit Zeichen und Ornamenten
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