Ralf Schöppner
An eine Geliebte


Ich komme regelmäßig dorthin zurück. Die Räume des Hauses sind andere geworden und sie haben sich vermehrt. Aber noch immer gibt es einen Raum, in dem ich sie finden kann. Ein Raum in einem Haus, daß sie immer seltener verlässt. Sie sitzt in einem Sessel, der in den letzten Jahren stetig näher an die wechselnden Fernsehapparate herangerückt worden ist. Größer wurde die Entfernung zur Heizung. Über der Heizung steht auf einer hellen Marmorplatte das Bild desjenigen, der sie viel zu früh verlassen musste und den ich nie kennen lernen konnte. Immer wieder trete ich gerne ein in diesen Raum und sage Hallo. Ich gebe ihr meine Hand und dafür bekomme ich ihre. Meinen Lippen hält sie ihre Wange entgegen. In den letzten Jahren habe ich es mir abgewöhnt, sie gleich als erstes zu fragen, wie es ihr gehe. Ich weiß, dass es nicht gut geht. Sie weiß, dass es mich interessiert. Ich weiß, dass ich darüber etwas erfahren werde. Wir reden. Sie fragt nach meinen Finanzen und ob ich da Hilfe brauche; sie fragt nach meiner WG und ob wir uns vertragen; sie fragt nach meiner Freundin oder will wissen, ob es überhaupt eine gibt; sie fragt nach Olli, den es schon immer gegeben hat; sie möchte wissen, wann ich mein Studium abschließen werde. Ich frage danach, was sie noch so tun kann; ich möchte wissen, ob und wie es mit dem Lesen noch geht; manchmal frage ich sie, ob sie ein paar wenige Schritte spazieren gehen möchte. Ich fürchte den Tag, an dem ich die Tür dieses Raumes öffne und er nicht mehr erfüllt sein wird von ihr. Ich fürchte den Tag, an dem all die Fragen nicht mehr möglich sein werden und das für immer.

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