Knut Eisold
… auch eine italienische Reise! (Ausschnitt)


Nach einer Weile verriet sein Blick auf das Gepäckförderband hintereinander Ungeduld, Unsicherheit, Ungläubigkeit. Doch sein Nachfragen am Reklamationsschalter brachte Sicherheit ins Ankunftsszenario: Der Koffer war nicht im Flugzeug. Wahrscheinlich war er in Paris, von Frankfurt kommend, falsch weitergeleitet worden. In den nächsten Tagen, vielleicht sogar schon morgen, so vertröstete man ihn, würde das Gepäck hier sein – hier am Flughafen, der ihn, nicht nur aufgrund der Größe, an eine heimische Edeka-Filiale erinnerte. In diesem winzigen Laden konnte also etwas verloren gehen! „Nein, nicht hier, in Paris!“, betonte noch mal der nette Kerl am Schalter in einer Melange aus gebrochenem Englisch und Italienisch. So stand er also in Genua.
Einhundert Jahre nach Nietzsche. „Die Geburt der Tragödie“ hatte Nietzsche da schon hinter sich, aber auch die „Fröhliche Wissenschaft“. Und auf den Spaziergängen rings um die Bucht von Rapallo, also ganz in der Nähe von Genua, „überfiel“ den großen Philosophen Zarathustra! Wenig später setzte dann das Stadium ein, das die Nietzsche-Biographen so schön kaschierend noch immer „geistige Umnachtung“ nannten. Sollte der verschwundene Koffer nun als Zeichen gelesen werden für weit Schlimmeres? Würde das nur der Auftakt gewesen sein für einen zwangsweise kommenden, weit größeren Schlamassel? Blödsinn! Was hatte er mit Nietzsche zu tun? Was sollte überhaupt dieser Anflug von irrationalem, abergläubischem Gekasper? Der Koffer war nicht da, na und! Er würde sich alles Nötige übergangsweise ausleihen können oder kaufen. Aber doch: Nietzsche wurde nach seinem Italien-Aufenthalt bekloppt! Schluß damit!
Und da war auch schon seine Liebste! Sie war nämlich der Grund für seinen Flug. Die beiden hatten sich in Deutschland kennengelernt und wollten sich nach sechswöchiger Trennung, wenigstens für ein Wochenende, endlich wiedersehen, um die Liebesbeziehung zu festigen und vielleicht sogar ein bißchen die gemeinsame Zukunft zu planen. Man schlenderte eng umschlungen durch die Stadt – ohne Gepäck war das möglich. Nach einem ersten Espresso, gefolgt von einem tiefkühlen Heineken auf einer sonnigen Altstadt-Terrasse, war man sich schnell über das nächste Ziel einig. Endlich sollte er das Haus kennenlernen, dessen Anschrift er schon auswendig kannte, durch die zahlreichen Briefe, die die Alpen durchquerten, um Gefühle zu vermitteln, auszudrücken, vielleicht sogar zu generieren oder die Zeit der Trennung spannend zu halten – wer wußte das so genau? Auf jeden Fall zeigte er sich nun überrascht und beeindruckt von der Behausung seiner Geliebten. Ein Renaissance-Palazzo, groß genug, so fand er, um fünf Fußballmannschaften darin beherbergen zu können, und seit x Generationen in Familienbesitz – nicht schlecht. Nicht schlecht auch der freundliche und mediterran-lautstarke Empfang durch die Familie. Hübsche Schwestern, deren Freunde, alte Tanten, keifende Hunde, Väter und Mütter, alles im Plural – wie es ihm, dem Nordmenschen aus dem manchmal dumpfen Hessen, schien. Und dann natürlich: gutes Essen, guter Wein, bester Grappa aus der Brennerei von Giovanni, der eigentlich Advokat und befreundet mit dem berühmten Architekten Aldo Rossi und der Cousin der Mutter väterlicherseits ... Es war nicht leicht den Überblick zu wahren, und doch gefiel ihm dieses Hallo, das sich noch viele Stunden in den Abend hineinzog. Lauschend, trinkend, wenig redend – sein Italienisch war nicht besonders – saß er da im vom Vater der Liebsten geborgten, blauen T-Shirt. Die Farbe erinnerte ihn an die Trikots der italienischen Fußballnationalmannschaft, an die Fußballbildchen aus seiner Kindheit, wie hießen die Kerle doch gleich … Dino Zoff, Riva, Boninsegna? … Egal. Der Abend war gut.

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