Jörg Brixel
Die dunkle Seite der Erde
Ein Abenteuer mit Sam Arkan (Ausschnitt)


War je ein Traum so bunt, als was hier wahr ist?
Heinrich von Kleist, Penthesilea, 1807

But every day can´t be a magic carpet ride …
The Byrds, Goin´ Back, 1968

Ist Ihnen nicht wohl, Señor? Sam Arkan blickte auf, in das freundliche, verstörte Gesicht der herbeigeeilten Kellnerin. Vor ihm stand ein Teller mit Apfelkuchen, hatte er Apfelkuchen bestellt, er konnte sich nicht mehr recht erinnern … Die Kellnerin nahm eine Gabel, wollte den Kuchen wohl zerteilen, als sei Sam ein Kleinkind, unfähig zur eigenständigen Nahrungsaufnahme … Was machen Sie da, lassen Sie mich, der Kuchen hier scheint abscheulich zu sein, ich bestelle eine Tortilla, nein warten Sie, ich gehe besser gleich. Hastig warf Sam ein paar Dublonen auf den Tisch, an fragenden Augen vorbei, hinaus in das vorabendliche südamerikanische Getümmel. Er rannte in einen Zeitungsjungen, na gib schon her, was ist das für ein Blatt, Quito Tribune, auf englisch, sehr gut, nicht dieses unverdauliche Spanisch, hysterisch und übertrieben wie die Angebote der hiesigen Konditoren. Wie sicher ist unsere Grenze? Wieder mysteriöse Fußabdrücke gefunden / Virologische Untersuchungen noch nicht abgeschlossen. Sam rollte die Zeitung zusammen und kratzte sich am Kopf.
Er gelangte auf eine kleine Piazza, ein Straßenmusiker mit schütteren langen Haaren, aber noch sehr jungem Gesicht bediente das Porphyrium, Sams Lieblingsinstrument, dieses Exemplar sah schon sehr abgeschabt aus, freiliegende Drähte ragen heraus, elektrische Dornbüsche. Melodien aus blutiger Seide erklingen, Sams Gemütszustand angemessen. Der Musiker bediente sich der Körpersprache der Blinden, wild warf er den Kopf hin und her. Im Stechschritt lief eine Patrouille vorbei, die Skier umgeschnallt, keiner älter als achtzehn, Antlitze aus Milch. Eine geborgte Entschlossenheit, das subkutane Wissen, daß man Situationen ausgesetzt sein wird, die nicht zu bewältigen sind, Vorahnungen eines monumentalen Verheiztwerdens. Sam lehnte sich an eine Häuserwand, dieser verdammte Traubwein konnte warten, Sam ahnte Übles, und überhaupt, wie war er in dieses alberne Straßencafe geraten, diese Aussetzer mußten endlich aufhören.

Ein barfüßiger Nordeuropäer hatte sich dem Porphyriumspieler zugesellt, er begann zu tanzen, die Arme überm Bauch verschränkt, die Bewegungen paßten keineswegs zur Musik, bald hatte er sich verausgabt, er legte sich aufs Pflaster nieder und war sofort eingeschlafen. Langsam ging Sam zu ihm hinüber, beugte sich zu ihm hinab und versuchte, einen möglichst beiläufigen Blick auf die Halspartie des Schlafenden zu werfen. Hm. Sam stand dem Musiker jetzt direkt gegenüber, diese Augen, Ausblicke in eine stille, fahle Hölle … Ein somnambuler Überläufer aus einer tiefergelegenen Welt … Grottenolmwelt … Er hielt den Kopf mittlerweile still, kein Anzeichen dafür, daß er irgend etwas außerhalb seiner selbst wahrnahm … Einer plötzlichen Eingebung folgend schaltete Sam das Porphyrium aus, ein riesiger Schalter, geeignet, ganze Kraftwerke ein- und auszuschalten; ein irgendwie herunterplumpsendes Geräusch erklang. Der Musiker verharrte in seiner Stellung, er bewegte sich überhaupt nicht mehr, die Augen komplett schwarz. Die Menge begann sich stumm zu zerstreuen. Sam verpaßte dem immer noch auf dem Boden liegenden Tänzer einen leichten Tritt und ging weiter. Bis zu Traubweins Büro war es nicht mehr weit.

(…)

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