Jörg Brixel
Sommer in Tsingtao – Eine Geschichte aus dem Zeitalter des deutschen Imperialismus (Ausschnitt)


Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean.
Kaiser Wilhelm II. 1896

Sollte der deutsche Handel immer mehr aufhören, ein Zwischenträger zwischen englischen und chinesischen Erzeugnissen zu sein, und deutsche Waren auf den asiatischen Markt werfen, so bedurfte er ebenso wie unser Geschwader eines eigenen Hongkongs.
Alfred von Tirpitz, Erinnerungen

Paul Nablows Speichel rotierte in seiner Mundhöhle, sinnlos, feucht und abgestanden. Bierödnis wucherte um seine Schläfen. Die kleinen spitzen Knie seines chinesischen Bediensteten schienen durch die Rippen hindurch in seinen Brustkasten eindringen zu wollen. Eine desolate, aus unfaßbaren Instrumenten herausdrängende Musik, die gerade jetzt, da der immer noch auf ihm kniende Bedienstete sich langsam, ruckartig und dennoch irgendwie devot wirkend weiter auf seine Magengrube und darüber hinaus auf seinen Unterleib zuzubewegen schien, durch das geöffnete Fenster, vom Meer her zu erklingen begann, war offensichtlich nur darauf aus, jedes Gefühl von Erbauung und innerer Einkehr, auf das man als feinsinniger Kunstliebhaber ja schließlich ein Recht hatte, gewaltsam zu zersplittern. Paul fühlte sich zunehmend von einer absoluten Mattigkeit ergriffen und ließ seinen vorgeblichen Widersacher gewähren, dessen Zudringlichkeiten vielleicht nichts weiter als unbeholfene Hilfsmaßnahmen waren; schließlich hatte Paul, sein Herr, sich bereits mehrfach übergeben, wobei besonders ein Stich von Fidus – nackte, entschlossene Gestalten erheben die Hände zur Sonne, Priester einer neuen, die trübe Welt sanft revolutionierenden Religion – in Mitleidenschaft gezogen wurde. Woher kam eigentlich die Musik? Die Seebataillonskapelle konnte es nicht sein … Fetzen von schlecht belichteten Gedanken verstreuten sich in Paul Nablow wie die Sprenkel von Erbrochenem auf dem besudelten Fidusbild.
Man hätte zum Feuer flüchten müssen … Es riecht nach Quecksilber, ich muß damit aufhören … Kaulquappenwesen in den Einmachgläsern des pathologischen Instituts … Kaulquappenaugen flehen nach Gerechtigkeit … Die Schande, die Schande … Es riecht nach … Die Stimme der Schwester … Ich muß damit … Es ist allemal vernünftiger, an Dämonen zu glauben als an Gott zu glauben … Hatte sie das gesagt … Das Familienbild vom Photographen abholen … muß ich noch … das Familienblut vom Pathologen abholen …

(…)

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