Jochen Weeber
Die Post der nächsten Tage (Auszug)

 


Einer rennt. Seine Frau heißt Rita und ist hinter ihm her. In Kürze passieren die zwei den Kreisverkehr beim Südstadttor, ehe sie auf den Bahnhof zusteuern. Das Tempo ist ordentlich und der Abstand zwischen beiden nicht allzu groß. Nach sechs Jahren lässt man den Anderen nicht so einfach ziehen.

Die Sonne strahlt, als wolle sie nichts Böses, es ist Sonntag und auch deshalb ein optimaler Tag für ein Laufduell. Er denkt wieder an Bundesjugendspiele und daran, dass er es nie bis zur Ehrenurkunde geschafft hat. Mittlerweile, so seine Einschätzung, würde er das mit links packen.

Luftlinie liegt der Bahnhof etwas mehr als zwei Kilometer von ihrer Wohnung in der Adenauer-Allee entfernt. Seit ihrem Einzug hatte jeder drei Versuche gestartet, schneller am Bahnhof zu sein, den Zug um 19 Uhr 10 zu bekommen und alles hinter sich zu lassen. Auf der Strecke befinden sich zwei Fußgängerampeln, die ohne größeres Risiko auch bei Rot passierbar sind. Dies ist notwendig, da der Vorsprung zum Anderen nicht reichen würde, um auf Grün zu warten, ohne eingeholt zu werden.
Auch wenn keiner es bisher geschafft hatte, vor dem Anderen dort zu sein, den Zug zu besteigen und ein stummes Adieu! aus dem Fenster fallen zu lassen, so malte er sich aus, zumindest ein Mal für diese Leistung eine Ehrenurkunde überreicht zu bekommen. Dieses schöne feste Papier mit dem goldenen Aufdruck. Vielleicht, so dachte er, würde durch einen Zufall eines Abends ein Funktionär des Sportbundes ihren imposanten Lauf beobachten und ganz spontan zwei Urkunden aus der Tasche ziehen.

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