Rebecca Lang
o.T.

 


Sie ist aufgeregt. Sie sitzt am Ende des Ganges. Als die Tür aufgeht, wird ein alter Mann herausgeführt. Links und rechts von ihm laufen zwei Krankenpfleger, die ihn fest im Griff haben. Der Alte schreit und versucht, den beiden Männern zu entkommen. Doch es ist aussichtslos. Sie ziehen ihn den Gang entlang und gehen mit ihm in ein kleines Zimmer. Was wohl ihre Mutter gerade macht? Wahrscheinlich sitzt sie hinter einer dieser Türen und starrt den lieben langen Tag auf eine bestimmte Stelle an der Wand.

Als man sie vor einigen Tagen anrief, kam ihr alles vor wie in einem Alptraum. Man sagte ihr, man hätte ihre Mutter halb erfroren auf einer Parkbank gefunden. Sie hatte ihre Handtasche auf ihrem Schoß fest umklammert. Man teilte ihr mit, dass ihre Mutter, seit man sie gefunden hatte, kein Wort redete. Man habe alles versucht. Sie wirke hilflos und könne die einfachsten Handgriffe nicht mehr. Deshalb hat man sie hierher gebracht. Wo sitzt sie hier eigentlich? In einer Irrenanstalt? Ihre Mutter in einer Irrenanstalt? Das konnte einfach nicht sein. In ihrer Kindheit war sie die fröhlichste, aufgeschlossenste Frau, die sie kannte. All ihre Freundinnen fanden ihre Mutter einfach spitze, denn an den Nachmittagen war das Haus immer voller Leben gewesen. Auch den Tod ihres Mannes vor einem Jahr hatte sie bewundernswert gut verkraftet. Und nun sollte sie von einem zum anderen Tag verstummt sein? Das konnte nicht wahr sein!

Aber es ist wahr. In wenigen Minuten sollte sie vor ihrer Mutter sitzen. Sie hat Angst. Ja, das gibt sie offen zu. Was, wenn ihre eigene Mutter sie nicht erkennt? Es würde ihr das Herz brechen. Vielleicht sollte sie einfach wieder gehen. Niemand hat sie gezwungen, hierher zu kommen, man hatte sie lediglich darum gebeten. Wenn sie jetzt ginge, könnte sie ihre Mutter in guter Erinnerung behalten. Andererseits würde sie sich Vorwürfe machen, sie hier allein gelassen zu haben. Erwartete man von ihr, ihre Mutter mit nach Hause zu nehmen? Das würde sie nicht schaffen. Sie hat eine Familie. Sie muss für ihre Kinder da sein, den Haushalt erledigen und hat auch noch einen Teilzeitjob. Wenn sie sich jetzt um eine alte verwirrte Frau kümmern muss … sie würde daran kaputtgehen. Das Problem ist, dass ihre Mutter auch immer für sie da gewesen war. Sie würde es nicht übers Herz bringen, sie hier zurückzulassen. Gerade fängt sie an, sich zu überlegen, wie ihr Leben ab heute aussehen wird, als eine Frau auf den Gang tritt: „Sie können jetzt herein kommen.“ Langsam erhebt sie sich und betritt das Zimmer.

Auszug aus der Personalakte der Psychiatrischen Klinik von S.:

Inhalt der Handtasche der Patientin B.:
– Personalausweis, abgelaufen seit 1 Jahr
– Adressbuch, vollgeklebt mit Todesanzeigen
– 5 Pfefferminzbonbons, unverpackt und verdreckt
– Hochzeitsfoto aus dem Jahre 1951
– mehrere alte Fotos, bei denen die Gesichter herausgeschnitten wurden
– 1 geöffnete Tüte Vogelfutter
– 1 Stofftaschentuch, vollgemalt mit Zeichen und Ornamenten

HOME               Informationen zu der Autorin